Freitag, 12. November 2010

[Buch] The Cambridge Companion to the Musical

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William A. Everett, Paul R. Laird (Hg.) (2008): The Cambridge Companion to the Musical. Second Edition. New York: Cambridge University Press.

Ich bin nur durch Zufall über dieses Buch gestolpert und hatte nie geplant, es zu kaufen. Meine Leseliste ist sowieso schon zu lange, doch das Cover hat mich angesprochen und ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis neugierig gemacht.
Das 412 Seiten starke Werk (inklusive Fußnoten, Bibliographie und Index) ist eine Sammlung von Aufsätzen, die sich um Musical (mit dem Fokus auf New Yorks Broadway und Londons West End) drehen. Diese zweite überarbeitete Version beinhaltet allerdings auch Essays, die Kontinentaleuropa, Film-Musicals sowie nicht englischsprachiges Musiktheater in den USA behandeln. Die insgesamt 19 Aufsätze sind nach ihrem zeithistorischen oder thematischen Fokuss in vier größere Teile gruppiert.

Part I - Adaptations and transformations: before 1940
Der erste Teil behandelt hauptsächlich US-Amerika, sprich New York. Es geht um die Anfänge des Musicals, die schwer zu bestimmen sind. Besonders herausgearbeitet werden Defintionsprobleme (welche verschiedenen Arten des Musiktheaters gibt es? Wo genau fängt eigentlich Musical an?) und auch die schwierige Quellenlage, vor allem für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert. Große Aufmerksam wird dem Einfluss der Operette aus Kontinentaleuropa (Wien!) gewidmet. Interessant auch der Beitrag über nicht englischsprachiges Musiktheater in New York, ein Aspekt von Immigration/Emigration, der in meinen Augen nicht sehr oft behandelt wird.

Part II - Maturations and formulations: 1940-1970
Aus den eher losen Anfängen mit vielen verschiedenen Stilen des Musiktheaters wird in den vier Kapiteln dieses Teils die Transformation zum "echten" Musical im heutigen Sinne (Integration von Musik, Tanz und Geschichte) nachgezeichnet. Die Musicals, die in diesem Teil behandelt werden, werden den meisten Fans des Genre bekannt sein (zumindest die Namen hat man schon einmal gehört). Es werden sowohl New York als auch London behandelt (kurz wird Zensur im britischen Musiktheater der 1940er/50er angeschnitten. Spannend! Davon hätte ich gerne mehr gelesen). Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem Duo Rodgers und Hammerstein, ein weiterer auf Kurt Weill und Leonard Bernstein.

Part III - Evolutions and integrations: after 1970
Der dritte Teil des "Musicalbegleiters" behinhält eher thematische als historisch nachzeichnende Artikel. Ausführlich wird das Schaffen von Stephen Sondheim betrachtet. Der breiten Masse ist er vermutlich seit der Verfilmung von Sweeney Todd - The Demon Barber of Fleet Street mit Johnny Depp bekannt, Schwerpunkt wird hier allerdings auf Assassins gelegt. Mit einem Beitrag über einflussreiche Choreographinnen und Choreographen von Broadway-Musicals wird auch der Tanz als Bestandteil des Musicals gewürdigt. Ein weiterer thematischer Schwerpunkt wird auf das "rock musical" gelegt, Vielfalt und Probleme bei einer genauen Definition inklusive (warum We Will Rock You allerdings mit keinem Wort erwähnt wird, ist mir ein Rätsel. Auch nicht, wenn "jukebox musicals" abgehandelt werden). Ein weiteres Kapitel behandelt das "Megamusical", es geht hier hauptsächlich um Les Misérables und Andrew Lloyd Webbers Werk (leider sind dem Autor zwei Fehler unterlaufen: Cosette stirbt nicht, es ist Eponine und das Phantom enthüllt seine Entstellung nicht freiwillig). Geographisch abweichend vom prinzipiellen Fokus des Buches ist das Kapitel über das Musical in Kontinentaleuropa, mit Schwerpunkt auf Österreich, Deutschland und Frankreich mit kurzen Exkursen in andere Länder wie die Tschechische Republik. Der Fokus des Artikels liegt mir persönlich etwas zu sehr auf Vorformen des Musicals wie der Operette und den Importen vom West End und Broadway. Ich hätte gerne mehr über die Eigenproduktionen der genannten Länder gelesen. Vielleicht kann man daraus auch einfach schließen, dass diese im englischsprachigen Raum zu wenig wahrgenommen werden um wirklich ausführlich gewürdigt zu werden? Der letzte Beitrag in dem Teil ist dann am spannendsten, wenn "the business of Broadway" beleuchtet wird.

Part IV - Legacies and transformations
Der letzte Teil dreht sich um das Film-Musical. Zum einen ein technischer Zugang, zu den Möglichkeiten, die der Film als Medium bietet und wie diese für eine gelungene Umsetzung von Bühnen-Musicals als Filme genutzt werden können, beschäftigt wird sich aber auch mit Film-Musical, die zuvor keine Bühnen-Produktion waren (mit einer sehr interessanten Analyse der Szene "El Tango de Roxane" aus Moulin Rouge!). Ein zweiter Artikel behandelt Revivals von klassischen Musicals (auf der Bühne, im Kino und im Fernsehen). Weiters enthält der vierte Teil eine Chronologie der Entstehung des Erfolgsmusicals Wicked, die in meinen Augen etwas detailliert hätte ausfallen können. Ich hätte gerne gelesen, welche Zeilen und Szenen genau und wie umgeschrieben wurden.

Wichtig: Auf jeden Fall empfehlenswert für die Lektüre dieses Buches ist eine umfassende "akustische" Kenntnis diverser Musicals vom Broadway und aus dem West End oder das äußerst hilfreiche youtube daneben zu haben. Es ist doch viel schöner auch die Melodie hören zu können, die theoretisch beschrieben wird.
Unbedingt die Fußnoten lesen! Sie sind zwar in einem Extrateil gelistet, was für den Lesefluss nicht gerade förderlich ist, aber dort gibt es abgesehen von den obligatorischen Quellenangaben auch hin und wieder anekdotische Randnotizen, wie Sondheims Bemerkung, dass er die ersten Texte, die er geschrieben hat, für unpassend hält.

Mein Fazit: Die Essays sind eine gute Mischung aus eher breit gefassten Überblicken und detaillierten Analysen, die so in einen Kontext gebettet sind. Am  interessantesten für mich waren die Artikel, die richtig ins Detail gehen und sich bei einigen wenigen Komponisten aufhalten oder eine relativ kurze Zeitspanne abdecken, denn in den Überblicken verliert man sich manchmal leicht in der Aufzählung unzähliger Titel und Komponisten. Schön aber, dass man die Beiträge nicht unbedingt in der Reihenfolge lesen muss, in der sie publiziert sind.
Gerne mehr gelesen hätte ich über Off-Broadway Produktionen, sie kommen nur in einem Kapitel am Rande vor. Welche Dynamiken und Faktoren (Publikum? Geld? Zeitpunkt der Produktion?) entscheidend sind, dass ein Stück erfolgreich auf den Broadway transferiert werden kann. Ich finde thematisch und auch vom geographischen Fokus hätte das sehr gut in das Buch gepasst.
Natürlich ist auch diese Sammlung eine Auswahl von relevanten Themen und Schwerpunkten. Sicherlich könnte man noch mindestens ein solches Buch machen und immer noch neue Aspekte entdecken. Und noch einmal so viele, wenn der Fokus nicht auf Broadway und West End liegt. Doch das ist natürlich kein Fehler dieser Essaysammlung, die gar nicht den Anspruch auf absolute Vollständigkeit erhebt.

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